Nach fest kommt ab

Unter dem Deckmantel der Sicherheit bedroht die anlasslose Massenüberwachung in nie gekanntem Ausmaß unser aller Freiheit.

Symbolisiert durch einen Nagel und Schraubenzieher wird das Sprichwort „nach fest kommt ab” übertragen auf die Bedrohung unserer Freiheit durch anlasslose Massenüberwachung.

Die Demokratie ist unter Druck. Ausnahmsweise ist mal nicht das Erstarken des Rechtsextremismus in Deutschland gemeint, sondern der vorgebliche Kampf gegen islamistischen Terror und „irreguläre“ Migration. Es ist ein nie dagewesener Überbietungswettbewerb zwischen fast allen im Bundestag vertretenen Parteien ausgebrochen. Die Debatte um eine sachgerechte Migrationspolitik hat sich so weit von evidenzbasierter Politik entfernt wie Russland von freien Wahlen oder das in X umbenannte Twitter von einer lösungsorientierten Diskussionskultur. Aus Angst vor der AfD wird meist – aber nicht nur – von konservativer Seite eine gesetzliche Verschärfung nach der anderen gefordert: „Schaut her, wir greifen durch, wir machen Law-and-Order-Politik“. So präsentiert man sich in der Öffentlichkeit. Bezeichnendes Beispiel dafür ist das von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann vorgeschlagene und erschütternd geschichtsvergessene Register für psychisch Kranke. Auch die ermüdenden Diskussionen um die Vorratsdatenspeicherung und biometrische Überwachung legen Zeugnis darüber ab, dass sich ein Fetisch für anlasslose Massenüberwachung festgesetzt hat. Ein Fetisch, für den Friedrich Merz kurz vor der Bundestagswahl sogar bereit ist, die tödliche Messerattacke in Aschaffenburg zu instrumentalisieren und im Bundestag notfalls auch Stimmen der AfD toleriert, um ihn durchzusetzen.

Symbole statt Evidenz

Ein weiteres Beispiel aus der Kategorie „Clickbait-Gesetzgebung“ ist der Beschluss der Ampel-Regierung zum sogenannten Sicherheitspaket, welcher erkennbar durch Druck von konservativer und rechtsextremer Seite vorangetrieben wurde. Nach dem Anschlag von Solingen und vor den drei Landtagswahlen im Herbst 2024 brauchte man schnell ein Symbol, um zu verdeutlichen, dass man mit aller Härte gegen das Problem vorgeht. Die anlasslose biometrische Überwachung aller Personen im öffentlich zugänglichen Internet schien dabei offenbar geeignet. Ein derart übereifriges und ungerichtetes Vorgehen erinnert an Abraham Maslow: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“. Sowohl der Anschlag in Magdeburg als auch der in Aschaffenburg werden als Anlass genutzt, um den politischen Zombie Vorratsdatenspeicherung wiederzubeleben. Die VDS hätte im Fall von Magdeburg allerdings überhaupt nichts genutzt. Dies gibt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auch offen zu, schließlich war der Täter allen relevanten Behörden bereits bekannt. Man müsste eher fragen, welche Behörden den Täter nicht gekannt haben. Weder Geldstrafen, Gerichtsurteile, telefonische Drohungen, noch fanatische X-Posts scheinen den Behörden jedoch stichhaltig genug gewesen zu sein. Auch der Täter in Aschaffenburg war den Behörden bereits bestens bekannt. Alles gleichgültig, man fordert nun dringend noch die IP-Adresse und biometrische Merkmale. Das ist keine evidenzbasierte, sondern durch Aufmerksamkeitsökonomie getriebene Sicherheitspolitik, bei der mitunter der Eindruck entsteht, die handelnden Personen seien Affiliate-Partner von VPN-Anbietern. Wie schon im Fall Anis Amri mangelte es nicht an Hinweisen, sondern an der Zusammenarbeit der Behörden.

Kann ich das noch teilen?

Künftig sollen öffentlich hochgeladene Bilder und Videos in Echtzeit biometrischen Analysen unterzogen werden. Dazu zählen etwa Analysen der Gesichter, der Stimmen oder der Gangbilder, die wer weiß wie lang gespeichert werden sollen. Das ist ein bei menschlichen Körperdaten noch nie dagewesener Eingriff in Grundrechte, insbesondere in die informationelle Selbstbestimmung. Werde ich zukünftig noch so frei wie heute meine Bilder im Netz teilen, wenn hinterrücks durch Software festgestellt werden kann, wann ich mit wem wo war? Gehe ich noch auf die Demo gegen Rechtsextremismus in Leipzig oder zum CSD in Pirna, wenn ich befürchten muss, mit all meinen Freunden eindeutig identifiziert in einer Datei zu landen? Und was passiert mit diesen Daten im Falle einer AfD-Regierungsbeteiligung? Die Verstärkung des Chilling-Effekts, also der Angst davor, die eigenen Grundrechte öffentlich auszuüben, scheint vorprogrammiert. Die damit verbundene Spirale des Schweigens, wie sie etwa nach der Enthüllung der staatlichen Überwachung durch Edward Snowden beobachtet wurde, bekäme neuen Schwung. Wie aus der Begründung des Gesetzestextes hervorgeht, kommt übrigens eine „Befristung der vorgesehenen Regelungen […] nicht in Betracht. Eine Evaluierung ist nicht vorgesehen.” Dabei wäre eine Evaluation bei einem so weitreichenden Gesetzentwurf dringend notwendig gewesen. Die Ergebnisse der gerade erst gestarteten und noch nicht abgeschlossenen Überwachungsgesamtrechnung hätten natürlich auch mit einfließen müssen. Evidenz spielte aber scheinbar keine Rolle.

Es wird jeden treffen

Ob sich Friedrich Merz und die anderen entscheidungstragenden Personen im Klaren darüber sind, dass sich auch ihr Leben durch diese Forderungen erheblich verändern würde? Denn auch sie, einschließlich ihrer Familienangehörigen und Freundeskreise, sind in Zukunft – ob sie wollen oder nicht – in der Vorratsdatenspeicherung erfasst und in der Super-Biometriedatenbank gespeichert. Welche Analysen und Missbrauchspotentiale damit ermöglicht würden, haben zwei Fälle in der jüngsten Vergangenheit eindrücklich dargestellt: die Databroker-Files und das Datenleck bei Volkswagen. Fakt ist, dass es wahnsinnig schwer bis unmöglich sein wird, eine Überwachungsinfrastruktur wieder loszuwerden, wenn sie einmal in Betrieb ist. Mit ihr wird für zukünftige Regierungen, der unter Umständen auch Politiker:innen einer vom Verfassungsschutz als eindeutig rechtsextrem eingestuften Partei angehören könnten, ein mächtiger Überwachungsapparat geschaffen. Bisher ist Deutschland in Fragen der Überwachung, Menschenwürde oder Pressefreiheit gegenüber autoritär regierten Staaten mit erhobenem Zeigefinger aufgetreten. Diese moralische Gewissheit zerfällt aber zu Staub, wenn hierzulande in Zukunft Telekommunikationsdaten massenhaft festgehalten und Millionen von Menschen biometrisch ohne Anlass und Einwilligung überwacht werden.

Alles an einem Fleck

Eine solche Datenbank wäre ebenfalls ein AAA+-Ziel für Hackingangriffe und Datendiebstähle. Nicht auszuschließen ist also, dass zukünftig diese Datenbank, bzw. Teile davon abhandenkommen. Was heute der Ransomware-Angriff ist, könnte morgen der Erpresserbrief mit einer Liste der brisanten persönlichen Kontakte und besuchten Orte oder die eigenen Biometriedaten sein. Selbstverständlich ist auch Missbrauch dieser mächtigsten Datenbank Deutschlands innerhalb der Behördenstruktur bzw. der beauftragten Dienstleistungsunternehmen ein möglicher Angriffsvektor. Ausländische Geheimdienste und staatlich finanzierte Hackinggruppen dürften ebenso ein gesteigertes Interesse an den dort gesammelten Daten haben, wie zum Beispiel der Bundestagshack oder der Hack auf die SPD-Zentrale nahelegen. Die Superdatenbank dürfte ebenfalls über die Jahre massiven finanziellen Interessen ausgesetzt sein. Warum sollte man sich als Hersteller nicht durch API-Zugriff ein paar Euro dazuverdienen und so die extrem teure Entwicklungsleistung durch alle, die Interesse an biometrischen Daten haben, gegenfinanzieren? PimEyes und Clearview AI lassen grüßen! Es gibt doch bestimmt jemanden, der seine Ex-Frau stalken oder die nächste KI trainieren will.

Sicherheit geht auch ohne anlasslose Massenüberwachung

Vor über zehn Jahren verübte Anders Breivik den fürchterlichen Anschlag auf der Insel Utøya in Norwegen. Als Reaktion sagte der damalige norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg im Jahr 2011: „Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“ Im heutigen Deutschland ist die Debatte so kaputt, dass plötzlich fast alle im Bundestag sitzenden Parteien, leider auch meine, diesen massiven Grundrechtseingriffen zustimmten oder sie sogar ablehnten, weil sie noch nicht weit genug gingen. Wie wäre es stattdessen, wenn Bund und Länder durch einen gemeinsamen und einheitlichen Arbeitsplatz, wie es auch Anne Brorhilker zur Bekämpfung der Steuerkriminalität gefordert hat, in Zukunft besser zusammenarbeiten könnten? Den Code dazu gibt es! Wie wäre es mit Präventionsprogrammen gegen Radikalisierung oder einer Diskussion im Integration (wir brauchen dringend die Fachkräfte!)? Wie wäre es, statt Symptome zu bekämpfen, die eigentlichen Fluchtursachen, wie zum Beispiel die Klimakrise, anzugehen? Ich jedenfalls möchte in Zukunft in einem freien und sicheren Land leben. Dafür darf aber niemand jeden meiner Schritte gegen meinen Willen anlasslos überwachen.

Disclaimer: Dieser Text wurde als Gastbeitrag für einen deutschen netzpolitischen Blog geschrieben. Aus diversen Gründen ist das leider nicht passiert. Da ich meine Gedanken aber trotzdem gern teilen möchte und das Thema „Überwachung” in den anstehenden Koalitionsverhandlungen mit Sicherheit eine Rolle spielen werden, veröffentliche ich den Text nun auf meiner Website. (Lesezeit: 10 Minuten)

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